Geschichte eines Waisenmädchens

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Chrack

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Geschichte eines Waisenmädchens

von Chrack am 02.12.2011 00:05

Hier die Adventskalendergeschichte von Thia, sie wird nach und nach ergänzt :) Danke nochmal für die Mühe :)


Finia stapfte in ihren abgenutzten Lederschuhen durch den Schnee. Sie waren schon oft geflickt, doch das Mädchen wusste nicht, woher es neue hätte bekommen sollen. Fest zog sie ihren lilafarbenen Umhang um sich. Er war eines der letzten Geschenke gewesen, das sie von ihren Eltern bekommen hatte, bevor... bevor, dachte sie, und schluchzte leise. Bevor der Werwolf sie getötet hatte.

Finia und ihre Eltern waren von einem Ausflug in den Wald wiedergekehrt, doch beim Picknick hatten sie die Zeit vergessen. Es war bereits dunkel geworden als die Familie den Waldrand erreichte. Finia hatte es im Gebüsch rascheln gehört. Das Geräusch hatte ihr Angst gemacht, doch Vater hatte ihre Hand genommen und beruhigend auf sie eingesprochen.

„Keine Angst kleine Prinzessin, nur der Wind", sagte er.

Aber es war nicht der Wind gewesen, der dort im Gebüsch geraschelt hatte. Kaum hatte Finias Vater seinen Gedanken ausgesprochen, da hörte das Mädchen es bedrohlich knurren. Sie fuhr herum und sah den Wolf, der aus dem Gebüsch heraus sprang. Sie kreischte auf und versteckte sich hinter ihrem Vater, doch der hatte dem Wesen nichts entgegenzusetzen.

„Ein Werwolf!", murmelte Finias Mutter entsetzt.

Vater hatte nur seinen Dolch dabei, der kaum Länger war als die Reißzähne des Werwolfs. Er erwischte die Bestie mit einem beherzten Stich an der rechten Vorderpfote. Der Wolf jaulte schmerzerfüllt, doch die Verletzung schien ihn nicht aufzuhalten.

In wenigen Minuten hatte der Wolf Finias Eltern getötet, während das kleine Mädchen daneben stand und weinte. Sie war völlig unfähig, sich zu bewegen, konnte nur dastehen und dieses Monster anstarren, das ihre Eltern getötet hatte. Die Tränen vernebelten ihre Sicht, doch das war ihr eine Erleichterung, denn so musste sie nicht mit anschauen wie die Bestie die Leichen ihrer Mutter und ihres Vaters fraß.

 

Finia selbst schien völlig uninteressant für das Wesen gewesen zu sein. Als er seinen Hunger gestillte hatte, war er in den Wald zurück gehumpelt, als wäre das Mädchen überhaupt nicht da.

In der Ferne ertönt ein Eulenruf, der Finia in die Gegenwart zurückrief. Das alles war nun zwei Wochen her. Sie war nur kurz in ihr Zuhause zurückgekehrt, um Proviant und warme Kleidung mitzunehmen, denn in der großen Stadt gab es keinen Platz für ein kleines Mädchen ohne Eltern. Sie wäre in einem der Armenhäuser gelandet, oder gleich in der Gosse, das wusste sie.

Doch sie hatte sich erinnert, dass sie eine Tante hatte, eine Schwester ihrer Mutter, die im Düsterwald lebte. Finias Eltern hatten oft von ihr gesprochen, sich gesorgt, weil sie so tief im Wald lebte.

Finia hatte Angst vor den Tiefen des Waldes, jetzt mehr denn je, doch sie wusste nicht, wohin sie sonst gehen sollte, also hatte sie sich auf den Weg in den Düsterwald gemacht.

Hier war sie nun, auf der Handelsstraße durch den Düsterwald. Am Rand der Straße gab es Gasthäuser, in denen man Nachts sicher vor den Kreaturen der Nacht war. Finia hatte ein wenig Geld von ihren Eltern gefunden, mit dem sie die Unterkunft bezahlte.

Nachts weinte Finia sich in den Schlaf. Schreckliche Bilder von Werwölfen und zerfressenen Leichen spukten ihr durch den Kopf. Nach allem was sie gehört hatte, würde sie morgen das Dorf ihrer Tante erreichen. Doch das machte sie nur nervöser. Was wenn ihre Tante sie nicht haben wollte? Immerhin kannte sie sie nur aus den Geschichten ihrer Eltern.

Nein, sie wird mich aufnehmen! Ganz bestimmt!, machte Finia sich Mut. Ihre Tante war die einzige Familie, die ihr noch blieb. Und Familien hielten doch zusammen, oder?

Mit diesen Gedanken fiel Finia in einen unruhigen Schlaf.

 

Am nächsten Tag machte sie sich schon bei Sonnenaufgang auf den Weg, denn das Dorf lag eine gute Tagesreise entfernt. Sie hatte Angst, wenn sie sich nicht beeilte, würde sie es nicht vor der Dunkelheit erreichen.

Finia versuchte, große, schnelle Schritte zu machen, doch sie war klein und ihre Beine kurz. Die Bäume an beiden Straßenseiten hatten weite, dichte Kronen. So konnte nur wenig Sonnenlicht durch das Blätterdach dringen. Es war so dunkel, dass man glauben könnte, es dämmere bereits. Kein Wunder, dass der Wald Düsterwald genannt wurde.

Die nah beieinander stehenden Bäume schienen kein Ende zu nehmen. Es waren Laub- und Nadelbäume, bunt gemischt. Zwischen ihnen wuchsen Büsche und Gräser. Sie bildeten ein dichtes Unterholz, das es schwierig erscheinen ließ, tiefer in den Wald vorzudringen. Doch das war ohnehin das letzte, was Finia wollte.

Bei jedem Rascheln eines Busches, oder Geräusch eines Tieres zuckte sie zusammen. Die vielen Tage die sie nun schon in diesem finsteren Wald verbracht hatte, setzten ihr allmählich zu. Ihre Blicke schweiften über die Bäume und versuchten, zu erkennen, was sich tiefer im Wald befand. Lauerten die Werwölfe dort schon auf sie?

Nein, das war dumm, es war doch Tag, auch wenn man es hier nicht sah. Trotzdem blickte sie weiter die Bäume an. Manchmal, wenn sie glaubte, es huschen zu hören, fuhr sie schnell herum. Doch nie sah sie etwas.

Finia schalt sich eine Närrin. Sie hatte keine Zeit für so etwas! Der Weg den sie heute zurückzulegen hatte, war ohnehin zu weit für sie, wie konnte sie noch Zeit an ihre Angst verschwenden?

 

Noch einmal beschleunigte das Mädchen ihre Schritte. Sie kuschelte sich in ihren lilafarbenen Umhang, um sich zu beruhigen. Der Stoff roch noch immer nach ihrer Mutter, die das Kleidungsstück genäht hatte. Eine einsame kleine Träne kullerte über Finias Wange.

Hin und wieder kamen Reiter und Wagen an ihr vorbei. Manchmal waren die Gefährte mit Fässern beladen, manchmal mit Kisten, doch nie achteten die Männer die sie steuerten auf Finia.

„Herr, bitte nehmt mich mit ins Dorf", rief sie, als der erste Wagen des Tages sie überholte. Doch der große, füllige Mann mit den Zügeln achtete nicht einmal auf sie. Er blickte stur geradeaus und trieb seine Pferde an.

Finia hätte es sich denken können. Schon an den vergangenen Tagen ihrer Reise hatte sie manchmal versucht, die Händler anzusprechen, die sie auf der Straße traf. Doch es schien, als würde das kleine Mädchen in der Welt der Erwachsenen gar nicht existieren.

Erst als es wirklich dämmerte, erkannte Finia, wie spät es war. Den ganzen Tag lang war die Straße in Dämmerlicht gehüllt, doch nun wurde es wirklich dunkel. Mit der Dunkelheit schlug auch die Angst wieder auf sie ein.

Ihre Füße schmerzten bereits sehr, doch trotzdem begann das Mädchen zu rennen. Hinter sich hörte sie ein lautes Heulen. Finia quietschte verängstigt. Doch die Furcht weckte zusätzliche Energien in ihr. Sie lief schneller, als sie zu können geglaubt hatte.

Finia glaubte schon, wenn sie noch schneller rennen würde, würde sie anfangen zu fliegen, als sie plötzlich den Halt verlor. Unsanft knallte sie mit den Knien auf den steinigen Boden.Ehe sie sich versah, erschien der Kopf des Werwolfs über ihr. Sie spürte seinen Geifer auf ihre Haut tropfen. Immer näher kam ihr seine Schnauze.

 

Finia schloss die Augen und machte sich so klein wie möglich, doch sie wusste, dass es kein Entkommen gab. Sie spürte den warmen, feuchten Atem des Wolfs an ihrem Nacken. Sein Gewicht schien ihren kleinen Körper zu erdrücken. Jeden Moment würde er zubeißen.

Doch es passierte nicht. Grade als sie das hungrige Grollen des Monsters direkt an ihrem Ohr hörte, ertönte in einiger Entfernung ein lauter Knall. Der Wolf winselte erschrocken und Finia fühlte seinen schweren Körper nicht mehr auf sich lasten. Verwundert öffnete sie ihre Augen und blickte sich um. Sie sah gerade noch, wie der Werwolf zurück ins Unterholz huschte. Er zog die rechte Vorderpfote ein kleines bisschen nach, doch das schien ihn nicht sehr zu behindern.

Finia atmete schwer und versuchte, sich von ihrem Schreck und ihrer Angst zu erholen. Eine große Männerhand legte sich auf ihre Schulter.

„Ist alles in Ordnung mit dir, Mädchen?", fragte eine tiefe, aber freundliche Stimme.

Finia blickte nach oben und sah ein wettergegerbtes Gesicht. Der Mann hatte eine grüne Mütze auf dem Kopf und trug eine dicke, ebenfalls grüne Jacke. In seiner anderen Hand hielt er eine Jagdflinte. Damit hatte er wohl auf den Werwolf geschossen.

„Danke", konnte sie nur sagen, bevor sie vor Erschöpfung zusammenbrach.

 

Als Finia wieder erwachte, lag sie in einem gemütlichen Bett mit blau-weiß karierter Bettwäsche. Das Kissen und die Decke waren prall gefüllt mit weichen Daunen. Orientierungslos sah sie sich in dem fremden Raum um. Die Wände waren mit Brettern aus hellem Holz verzimmert und verliehen ihm eine freundliche Atmosphäre. Durch ein Fenster in der Wand ihr gegenüber drang das helle Licht des Morgens. Die Hütte hatte sogar einen Kamin, in dem ein großer Kupferkessel hing. Überall waren Kräuter und kleine Fläschchen mit allerlei rätselhaftem Inhalt verteilt. Ein Geruch nach Kräutern mit einem leichten Unterton von Alkohol erfüllte die Hütte, doch er war nicht unangenehm. Vielmehr machte er sie neugierig darauf, was die verschiedenen Pflanzen wohl bewirken mochten und welche Tränke man mit ihnen herstellen konnte.

Nun fixierte Finia ihren Blick auf eine junge Frau, die auf einem Schemel neben dem Bett saß und das kleine Mädchen besorgt betrachtete. Sie konnte nicht viel älter als zwanzig Jahre sein, doch sie wirkte sehr intelligent.

„Wo bin ich hier?", fragte Finia die fremde Frau. Ihre Stimme war noch immer schwach und leise.

Die Frau lächelte sie herzlich an. „Du bist im Dorf Düsterwald. Schön, dass du aufgewacht bist. "

Finia versuchte, ebenfalls zu lächeln, doch es missglückte ein wenig. Die Frau begann, die Stirn zu runzeln und sprach weiter.

„Aber warum wandert ein kleines Mädchen allein durch den Düsterwald?", wollte sie wissen.

„Da war dieser Werwolf. Er hat sich im Gebüsch versteckt. Er kam herausgesprungen und hat meine Eltern umgebracht", erzählte Finia traurig. „Ich hatte sonst niemanden in der Stadt, und ich wollte doch nicht ins Armenhaus. Aber ich soll eine Tante hier im Dorf haben."
Jetzt blickte die Frau nachdenklich drein und betrachtete Finias Gesicht sehr sorgfältig.

 

 

„Es tut mir leid um deine Eltern", sagte sie und klang durchaus mitfühlend. „Wie hieß deine Mutter, Mädchen?"

„Lyrianne", antwortete Finia brav.

Darauf lächelte die Frau traurig. „Meine große Schwester. Sie ist damals in die Große Stadt gezogen, um den Gefahren des Düsterwaldes zu entkommen."

„Also bist du meine Tante?", fragte Finia mit großen Augen und leiser Hoffnung in ihrer Stimme.

„Ich glaube schon", antwortete ihre Tante dem kleinen Mädchen. „Ich bin Lyssia, und du?"

„Finia", antwortete sie, und fühlte sich zum ersten Mal, seit der Werwolf ihre Eltern getötet hatte, nicht allein.

„Du kannst bei mir bleiben, wenn du möchtest, Finia. Aber du hast dir keine gute Zeit ausgesucht, um im Düsterwald leben zu wollen. Schon seit Monaten sucht uns ein Rudel Werwölfe heim", erzählte ihre Tante Lyssia nun ernst.

„Wir glauben, dass wir alle bis auf einen von ihnen enttarnt haben", fuhr sie fort, wobei sich ein leichter Anflug von Stolz in ihre Stimme mischte. Ob sie es gewesen war, die die Werwölfe enttarnt hatte?

„Warum könnt ihr denn den Letzten nicht erwischen?", fragte Finia. Angst schlich sich in ihre Stimme, denn sie musste an ihre Begegnung im Wald denken.

„Er ist zu gerissen", gab Lyssia mit ratloser Miene zu. „Am Tag ist er einer von uns, ein ganz normaler Dorfbewohner. Wer auch immer er ist, er zeigt keinerlei Anzeichen dafür, ein Werwolf zu sein. Er macht uns paranoid, sorgt dafür, dass wir uns gegeneinander wenden. Wir haben schon mehr als einen Unschuldigen gehängt."

„Oh nein!", rief Finia erschrocken aus. Sie hatte gewusst, dass im Düsterwald Gefahren lauern würden, natürlich. Doch dass die Einwohner des Dorfes sich gegeneinander wandten, war ein Schock für sie. Sie hatte so sehr auf eine neue Heimat gehofft.

Ihre Tante nickte mit traurigem Blick. „Ich fürchte, die Bestie wird nicht aufhören, bevor das ganze Dorf entvölkert ist. Es sei denn, wir können irgendwie herausfinden, wer er ist."

„Kann ich nicht helfen?", fragte Finia eifrig. Ihre Angst vor dem Monster hatte nicht nachgelassen, doch im Schutz eines ganzen Dorfs fühlte sie sich sicherer, auch wenn es ein verzweifeltes, verängstigtes Dorf war. „Ich habe ihn gestern Nacht gesehen. Vielleicht würde ich ihn erkennen."

Doch Tante Lyssia schüttelte nur den Kopf. „Du hast ihn als Wolf gesehen. Doch wir müssen ihn am Tag enttarnen, wenn er in seiner menschlichen Gestalt ist. Verwandelt ist er zu stark, als dass wir ihn überwältigen könnten. Bis vor kurzem hatte ich ein starkes Gift. Damit hätte ich ihn auch in der Nacht töten können. Doch ich habe es an einem anderen Werwolf aufgebraucht."
Sie zuckte hilflos mit den Schultern. „Ich kenne das Rezept nicht. Ich bin erst seit kurzem die Dorfhexe. Meine alte Meisterin hat das Gift gebraut, doch sie ist gelyncht worden. Die anderen haben sich eingeredet, sie sei der Werwolf. Ich konnte sie nicht retten."

Bei ihren letzten Worten klang Lyssia so traurig wie Finia sich fühlte, wenn sie an ihre Eltern zurück dachte.

Sie konnte sehen, wie ihre Tante sich bemühte, sich zu fassen.

„Fühlst du dich stark genug aufzustehen? Wenn du hier leben willst, möchte ich dich dem Dorf vorstellen."

Finia nickte zurückhaltend. Sie war nicht gerade begeistert von der Aussicht, den Werwolf vom gestrigen Abend wiederzusehen. Doch ihre Tante hatte recht. Sie wollte hier im Dorf leben, also sollte sie auch die anderen Einwohner kennen lernen.

Das Mädchen schlug ihre Daunendecke zurück und setzte sich im Bett auf. Sie trug noch immer ihre alte Kleidung, sogar den Umhang. Tante Lyssia lächelte entschuldigend.

„Ich hätte dir frische Kleidung gegeben, doch ich habe nichts was dir passen würde. Wir lassen dir etwas nähen."

„Ist nicht schlimm", antwortete Finia. Natürlich hätte sie sich über neue Kleider gefreut, doch zumindest ihr Umhang war ihr sehr ans Herz gewachsen. Sie hätte ihn nicht hergeben wollen.

„Na dann lass uns raus gehen", meinte ihre Tante und hielt Finia ihre Hand hin. Das Mädchen ergriff sie und stand aus dem Bett auf. Dann gingen die Beiden zur Tür und verließen die Hütte.

Draußen erwartete sie frische kalte Luft, die sie sofort vollkommen wach werden ließ. Der Boden, die Dächer und Bäume waren wunderbar verschneit.

„Ohh", machte Finia. Trotz allem, was sie in der letzten Zeit erlebt hatte, freute sie sich sehr über den Schnee. Sie begann zu lächeln, und vergaß wenigstens für einen Moment all das Schreckliche der letzten Wochen.

Sie ließ die Hand ihrer Tante los und tollte durch den Schnee. Gerade wollte sie einen Schneeball formen, da hörte sie Lyssias Stimme hinter sich.

„Komm schon Finia, das ist nicht die Zeit zum Spielen", sagte sie, durchaus freundlich, aber trotzdem bestimmt.

„Na gut", murmelte Finia, traurig, wieder in die Wirklichkeit zurückgerissen zu werden. Doch sie verstand ihre Tante. Vermutlich wollte sie den Tag für die Jagd nach dem Werwolf nutzen.

So nahm sie wieder Lyssias Hand und ging mit ihr auf den Dorfplatz, wo die anderen Dorfbewohner sich schon versammelt hatten.

Es waren nicht mehr sehr viele. Vielleicht dreißig Männer und Frauen, die bereits aufgeregt miteinander diskutierten. Vor ihnen stand ein Mann, der etwa fünfzig Jahre alt sein musste, und versuchte, sie zu beruhigen. Er war schlank und hatte nur noch einen grauen Haarkranz auf seinem Kopf. Er wirkte ein bisschen wie ein netter Lieblingsgroßvater.

Tante Lyssia ging mit Finia an der Hand auf den Mann zu und winkte ihm mit der freien Hand freundlich.

„Bürgermeister, ich möchte euch meine Nichte Finia vorstellen", sagte sie und deutete auf Finia.

„Hallo kleine Finia", sagte der Bürgermeister freundlich und kam einen Schritt auf sie zu. Seine rechte Hand kam auf sie zu, als wolle er ihre Wange streicheln.

Doch Finia machte nur große Augen und blickte ihn entsetzt an. Sie versteckte sich halb hinter ihrer Tante.

„Das ist er!", hauchte sie.

Der alte Mann runzelte einen Moment lang irritiert die Stirn, doch er hatte sich schnell wieder im Griff.

„Das arme Mädchen ist ganz mitgenommen. Was hat sie?", sagte er.

„Sie wurde gestern Abend von einem Werwolf angegriffen, Bürgermeister", antwortete Tante Lyssia. Sie klang verwirrt.

„Aber Tante, das ist er! Der Werwolf, ich erkenne ihn! Er hat meine Eltern getötet!", rief Finia aufgeregt. Sie klammerte sich fest an Tante Lyssias Rock.

Sie hatte so laut gerufen, dass nun auch andere Dorfbewohner ihre Diskussionen unterbrachen und ihre Aufmerksamkeit auf Finia und den Bürgermeister richteten.

„Das Mädchen hat Recht, er zerrt doch schon seit Tagen unschuldige an den Galgen!", sagte eine Frau mittleren Alters.

„Genau, er hat meine Frau auf dem Gewissen!", rief ein Mann wütend.

„Lassen wir ihn seine eigene Medizin schmecken!"

„Ja, an den Galgen mit ihm!"

Immer mehr Dorfbewohner fielen in die Rufe ein. Finia konnte es kaum fassen, sie hatte ihnen doch gar keine Argumente geliefert. Das Dorf war schon so verängstigt, dass schon der kleinste Verdacht reichte, um jemanden zu töten.

Doch in diesem Fall war es egal. Finia erkannte den Mann, sie war sich völlig sicher!

Der Bürgermeister wirkte überrumpelt und brauchte einen Moment um sich wieder zu fassen. Er war innerhalb weniger Sekunden von Menschen umringt, die ihn packten und zu dem hölzernen Galgen in der Mitte des Dorfplatzes zerren wollten.

„Aber denkt doch nach! Ich bin euer Anführer, ihr vertraut mir!", versuchte er, die Leute zu beschwichtigen.

„Das Mädchen ist verwirrt. Sie weiß nicht wovon sie spricht!", rief er, nun eindeutig panisch. Er merkte, dass er das Vertrauen seines Dorfes verloren hatte.

Doch niemand antwortete ihm auch nur. Zwei große, bullige Männer packten den Bürgermeister bei den Schultern und zerrten ihn zum Galgen. Er schlug und trat um sich, doch es half alles nichts, die Beiden waren zu stark für ihn. Sie legten ihm die Schlinge um den Hals und legten einen Hebel um.

Eine Falltür unter dem Bürgermeister öffnete sich und er fiel einen Schritt tief. Mit einem lauten Knacken brach sein Genick.

Die Menge sah dem Schauspiel gebannt zu. Vor allem Finia blickte die Leiche am Galgen erwartungsvoll an.

Und tatsächlich: nach wenigen Momenten begannen Haare, auf der toten Haut des Bürgermeisters zu sprießen. Immer schneller und dichter wuchsen sie, bis er überall mit einem flauschigen Wolfspelz bedeckt war.

Tante Lyssia blickte Finia verwundert an.

„Woher wusstest du das?", fragte sie.

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Antworten Zuletzt bearbeitet am 14.07.2014 12:40.

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